Rede | Andreas Kühne

Im Kunstverein "Talstrasse e.V." am 11.04.2001

Andreas Kühne

Es ist, glaube ich, ein wenig mehr als nur der Versuch, dem "genius loci" zu huldigen, wenn ich meine Einführung mit einem Satz Hans Finslers beginne. "Die Leidenschaft des Photographen ist das Finden, das Ordnen .... sein Mittel der bewußte Schnitt durch den Ablauf einer noch ungedeuteten Zeit und den Inhalt eines noch ungeklärten Raumes". Dieser Satz Finslers aus den frühen 30er Jahren scheint heute, in der Postmoderne, in der wir uns noch immer befinden, nur noch für einen kleinen Teilbereich der Fotografie gültig zu sein.
Paradoxerweise scheinen sich im Verhältnis von Fotografie und Malerei - mindestens was die gestische, informelle und konzeptuelle Malerei betrifft - die Vorzeichen verkehrt zu haben. Während die Malerei den Blick zunehmend nach Außen richtet und ihre Metaphern zu objektivieren sucht, richtet sich der traditionell objektivierende Blick des Fotografen vorzugsweise auf die eigene Person und deren Innenwelt. Als ein phänomenologischer Beleg dafür kann gelten, daß in Europa und Nordamerika seit Beginn der 90er Jahre sozialdokumentarische Foto-Projekte immer seltener geworden sind. Sogar in Ostdeutschland, wo die sozialdokumentarische Fotografie durch die Fotoklasse der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst einen ganz besonderen Stellenwert besaß, ist sie weitgehend auf dem Rückzug begriffen. Auch die ordnende und strukturierende Sachfotografie hat sich entweder ganz aus der Kunst zurückgezogen, oder sie wird nur als ein Bestandteil multimedialer Konzepte und Inszenierungen geduldet.

Allenfalls die Stadt und die Landschaft, die als Sujets der Fotografie so alt sind wie das Medium selbst, können noch kleine Refugien behaupten.
Die meisten der heute produzierten Fotografien von Interieus, objets trouves, Architekturfragmenten und Weltfragmenten sind nur durch ihren radikalen Bezug zum Ich des Fotografierenden und dessen Bewußtseinslagen und Empfindungen von Interesse. Ganz ungeschminkt behauptet sich Narcissus in einer Riesenzahl von Porträts und Selbstporträts - und seien sie auch noch so verfremdet - in vielen zeitgenössischen Fotoausstellungen. Am Ende des 20. Jahrhunderts ist an die Stelle der Inszenierung der Außenwelt die uneingeschränkte Inszenierung des eigenen Ich oder ihm nahestehender Personen getreten. Klaus von Gaffron ist schon seit den 70er Jahren einen anderen Weg gegangen.
 
Die Person
Ursprünglich war er ein Maler, der sich allerdings schon früh der Fotografie verschrieben hat. Geboren im niederbayerischen Straubing besuchte er dort das Humanistische Gymnasium und studierte dann in München an der Akademie der Bildenden Künste in einer Malerklasse. Seit 1978 war er als Gründer und Mitarbeiter mehrerer Foren für zeitgenössische Fotografie tätig und organisierte eine Reihe von nationalen und internationalen Fotoausstellungen. 1991 wurde er zum Ersten Vorsitzenden des Berufsverbandes Bildender Künstler München und Oberbayern gewählt.
Seine eigenen Tableaus und Fotoserien nennt er "Fotobilder", doch nicht um formal an dem älteren Medium anzuknüpfen. Der Titel bedarf einer Erklärung, bezeichnet er doch weder eine raffinierte Manier, mit deren Hilfe die technischen Möglichkeiten der Fotografie ausgelotet werden sollen - um es gleich vorweg zunehmen, es handelt sich hier generell nicht um digital verfremdete Fotografien -, noch spielt er auf die längst vergangene Kunst der "Piktorialisten" an, Bilder mit der Kamera zu malen.
Klaus von Gaffrons "Fotobilder" wollen weder von der Außenwelt Besitz ergreifen noch hermetische eigene Bilderwelten schaffen. Durch den Bildausschnitt, die Verfremdung durch bewußte Unschärfen und den steten Wechsel der Blickpunkte wird ein Zwischenreich der Mehrdeutigkeiten und Täuschungen geschaffen. Diese Bilderwelt konterkariert die von der Wissenschaft schon lange aufgegebene, aber im Alltagsbewußtsein immer noch gegenwärtige Aufteilung der Erde in ein Pflanzen-, Tier- und Mineralreich. Der Betrachter der Gaffronschen "Fotobilder" bleibt im Unklaren darüber, ob die von ihm mühsam identifizierten Gegenstandsfragmente Naturformen abbilden oder ob diese durch synthetische Produkte aus der Warenwelt ersetzt worden sind. Der Betrachter kann sich seiner Sache nie sicher sein. Mehrdeutigkeit und bewußte Täuschung spannen ein Netz von artifiziellen Beziehungen auf. Nicht einmal die Größenverhältnisse geben einen sicheren Anhaltspunkt. Sie oszillieren zwischen makro- und mikrokosmischen Strukturen.

Das Tableau
Klaus von Gaffrons bevorzugte Stilmittel sind die Auswahl, die Neuordnung in neuen Zusammenhängen und die Verdichtung. Durch ihre serielle Präsentation in Form von Reihen und Tableaus verwandeln sie sich in eine eigene Wirklichkeit mit ästhetischer Überzeugungskraft. Die Bilder werden innerhalb eines Tableaus nicht mehr in einer erzählenden, Zeit nachbildenden Weise zusammengesetzt. Sie generieren Formen, die nicht mehr einer chronologischen Schilderung der Wirklichkeit entspringen, sondern als simulierte Bewegungen einer selbstgeschafftenen Wirklichkeit zu lesen sind. Das Einzelbild geht immer neue formale Beziehungen zu anderen Fotobildern ein.
 
Bild und Wort
Nicht ganz neu im Werk von Klaus von Gaffron, aber betont durch die Auswahl der Tableaus in dieser Ausstellung, ist die Integration von Buchstaben, Worten und Satzbruchstücken in die "Fotobilder". Hier wird ein weiteres Spannungsfeld, eine weitere Möglichkeit der Verunsicherung eröffnet, innerhalb deren sich Wort und Bild in ihrer Wirkung verstärken, aber auch neutralisieren können. Die Worte lösen Assoziationen aus, die von den Bildern eingelöst werden oder sich an ihnen reiben. Die verbalen Bildbestandteile bestehen aus Buchstaben, aus Wortsplittern, aus isolierten, ihres ursprünglichen semantischen Kontextes beraubten Worten. Als Fragmente alltäglicher medialer Kommunikation, herausgegriffen aus der uns umgebenden Worteflut, erscheinen sie zunächst ganz eindeutig und banal. Bei näherem Hinsehen geben sie Rätsel auf. Es kann sich hier ebenso gut um verbale Endzustände einer radikalen Dekontextualisierung des optischen Erlebens handeln wie um die Bruchstücke einer neuen, sich nur mur mühsam und verschämt manifestierenden Sinngebung. Auch hier - ebenso wie bei den "nur" optisch wirkenden Fotobildern - führt Klaus von Gaffron den Betrachter in Aporien, ja er zwingt ihn förmlich in Weglosigkeiten.
Zur steten, wachen, überwachen Suche nach neuen Bildern und Bildzusammenhängen tritt das konzeptuelle Wechselspiel von Bild, Gegenstandswelt und Begriff. So sind einige seiner Bildideen ohne die spannungsschaffende Dichotomie von Gegenstand und Wort gar nicht vorstellbar.
Mit literarischen Mitteln hatten schon Robert Musil in seinem Jahrhundertroman "Der Mann ohne Eigenschaften" und Alfred Döblin in der Romancollage "Berlin Alexanderplatz" versucht, Sprichwörter, Reklame, Zeitungsüberschriften und alltägliche Worthülsen auf ihre gesellschaftliche Semantik und Wirksamkeit hin abzuklopfen.
Während diese Autoren ihre Wort- und Satzfunde mit Erscheinungen und Vorgängen in der von ihnen beobachteten Gesellschaft konfrontierten, stellt Klaus von Gaffron verbale Fragmente unterschiedlichster Herkunft einer autonomen, von ihm erst geschaffenen Realität der "Fotobilder" gegenüber. "Es gibt kein wahres Foto", lautet ein Satz von Klaus von Gaffron, "nur die Realität des Bildes". Die Fototableaus werden durch die manchmal nur schwer lesbaren "Inschriften" ironisiert und konterkariert, ins Gegenteil verkehrt und banalisiert. In anderen Fällen aber verrätselt, erhöht, verstärkt und mit ungewöhnlichen Bedeutungen aufgeladen.
 
Die zunächst so fraglos wirkenden "Inschriften" schließen uns in ihrer abweisenden Diskretion vom Begreifen aus. Oft haben wir keine Ahnung, worum es hier eigentlich geht.
Aber ist diese Welt wirklich so geschlossen? Hermetisch, abweisend, artistisch? Manche Rätselzeilen werden durch ihre neue Umgebung zu modernen Allegorien. Die scheinbar auf ganz individuelle Bilderfindungen und -empfindungen reduzierten "Fotobilder" zu symbolischen Formulierungen, in denen sich Überpersönliches gleichermaßen zeitnah, brandaktuell und medienkritisch, aber auch zeitenhoben und geheimnisvoll ausdrückt. Auf diesem Wege erhalten die "Fotobilder" Klaus von Gaffrons ein heimatlos gewordenes Stück Spiritualität zurück, das einer allein um die eigene Befindlichkeit kreisenden Selbstinzenierungsfotografie in der Regel völlig verloren gegangen ist.