Schutzräume

Rede am 2. März 2002 - Kunst-Pavillon im Botanischen Garten
 
Dr. Susanna Partsch
 
Schutzräume   Es ist für die Entwicklung eines Menschen unumgänglich, sich aus seinen Schutzräumen hinauszubegeben. Das fängt beim Mutterleib an, setzt sich dann fort mit der Erlernung von Bewegung und der anschließenden Durchsetzung von Bewegungsfreiheit usw. Gleichzeitig aber birgt das Verlassen der vertrauten Schutzräume Gefahren, und so sucht man neue auf oder baut sie sich selbst, im wahrsten Sinne des Wortes oder auch im übertragenen. Für jeden Lebensabschnitt, für jeden Beruf, für viele Tätigkeiten gibt es Schutzräume, auf deren Unverletzlichkeit wir uns verlassen müssen, weil ein Infragestellen unsere Existenz bedrohen würde.
 
Schutzräume beschäftigen Klaus von Gaffron schon seit längerem. Nach dem Golfkrieg stellte er 1991 im Keller der Lothringerstraße die Installation »Nachtstücke« aus. Die Installation selbst beinhaltet die Frage nach fotografischer Wirklichkeit, der Ort jedoch gemahnte an einen Luftschutzkeller und damit an einen Schutzraum.
 
Die Installation im Kunstpavillon des Alten Botanischen Gartens kann und soll nicht nebenbei als Schutzraum angesehen werden. Sie setzt sich vielmehr direkt mit Schutzräumen und deren Bedrohung auseinander. Dabei sind Öffentlichkeit und Privatheit miteinander verwoben, auch wenn sich das Betrachtern nicht unbedingt erschließt. Ästhetische Irritationen, serielle Aspekte, Spiegelungen sind wichtige Bestandteile der Installation.
 
Ausgangspunkt ist und war ein Nashorn, kein lebendiges, sondern ein Plüschnashorn in einem Geschäft. Es war auch kein ganzes Nashorn, sondern nur der Kopf. 31 Kuschel-Nashorn-Köpfe hängen im Kunstpavillon an einer Wand, Trophäen gleich auf schwarze Platten montiert. Um welches der unterschiedlichen Nashornarten es sich handelt, ist jedoch nicht zu erkennen und spielt auch keine Rolle.
 
Das Nashorn, egal ob in Afrika oder Asien, wird wegen seines Hornes gejagt, einem angeblichen Aphrodisiakum. Einziger Schutzraum, in dem es wirklich sicher ist, sich aber nicht unbedingt sicher fühlt, ist der Zoo. Doch dort lebt es unter unnatürlichen Bedingungen. Sein Lebensraum, sein natürlicher Schutzraum, wurde durch die Kolonialherren, die Großwildjäger, zur Bedrohung. Die Nachfahren der Kolonialherren lieben es im Zoo oder als Kuscheltier.
 
Auf vier Monitoren kann man im Film verfolgen, wie ein Nashorn gejagt wird, damit es in den Zoo gebracht werden kann. Im Zoo fehlt dem Tier nicht nur die M öglichkeit, sich so zu bewegen wie in der Steppe, ihm fehlt auch sein Horn. Es kann seine Kraft nicht mehr ausleben und versinkt in Lethargie wie so viele Zootiere, die ihr Dasein auf engstem Raum fristen müssen, allerdings geschützt vor den Jägern. Der Schutzraum zum Überleben ist also gleichzeitig ein Gefängnis, in dem es nicht möglich ist, die eigenen körperlichen Bedürfnisse auszuleben. Eine mehrteilige Fotoarbeit, die den Monitoren gegenüber hängt, zeigt noch einmal den Kopf des gejagten Nashorns und dazu eine Hand, deren Daumen an das Horn des Tieres erinnert. Diese Hand, die zu einem Befehlshaber oder auch Befehlsempfänger gehört, hindert das Nashorn daran, wegzustreben, was es will, ja eigentlich muss, wenn es in seinem ursprünglichen Schutzraum überleben will.
 
Kurz nach der Begegnung mit dem Kuschel-Nashorn-Kopf in einem Möbelgeschäft fand Klaus von Gaffron ein aus dem Familienbesitz stammendes Foto aus Sumatra. Dort war sein Großvater Plantagenverwalter, dort wurde sein Vater geboren und kam erst als Fünfjähriger nach Deutschland. Wer auf dem Foto dargestellt ist, weiß niemand mehr, aber es ist das friedliche Bild von wohlhabenden Menschen in einem Garten mit einem schönen Anwesen im Hintergrund. Den Schutzraum, in dem sich die Kolonialherren damals befanden, hatten sie sich mit Waffengewalt und anschließendem autoritärem Auftreten erkämpft. Es lebte sich gut in einem Land, in dem die Eingeborenen als Sklaven gehalten wurden und die Ausbeutung der Natur diesen Menschen die Lebensgrundlage entzog. Von Gaffron ließ sich mit seinem Kuschel-Nashorn-Kopf in Großwildjägerpose fotografieren und montierte sich so in das Bild. Es erhielt den Titel »Schutzräume«. Für die Installation hat er das Bild auf Großformat hochvergrößert und mit einem handwerklich hochwertigen Rahmen versehen. Damit nähert es sich den Bildern an, wie sie in den Kolonialhäusern hingen und die alte, die sogenannte zivilisierte Welt repräsentierten.
 
Die neunteilige Fotoarbeit bei den Monitoren und die fünfteilige bei den Nashörnern scheinen nicht in den Kontext zu passen, sind aber eng mit ihm verwoben. Die heutige Situation der reichen Länder, die die Weltwirtschaft kontrollieren und die armen Länder immer weiter und immer weiter ausbeuten, ist ohne die frühere Kolonialherrschaft nicht denkbar, die zwar pro forma aufgehoben ist, aber auf andere subtilere Weise besser funktioniert als zu Zeiten des Kolonialismus.
 
Hochburg und Schutzraum der Weltwirtschaftsbosse waren bis zum 11. September die Twin Towers. Bilder ihrer Konstruktion in der neunteiligen Arbeit erinnern heute an ihre Zerstörung. Der Glaube an ihre Stabilität ist durch ihre tatsächliche Fragilität konterkariert. Der Seiltänzer hoch über Manhattan zeigt beides. Er hat mit seinem Seiltanzakt sämtliche Schutzräume verlassen, verlässt sich aber gleichzeitig darauf, dass die Türme das Seil tragen. Die Balance von Verlässlichkeit und der Möglichkeit, diese Verlässlichkeit zu verlassen, um wieder zu ihr zurückkehren zu können, ist durch den 11. September zunichte gemacht worden. Die Waffe war die Wut über den verlorenen eigenen Schutzraum und das Flugzeug, wiederum ein eigener Schutzraum, der für die Insassen zum Gefängnis wurde, das die Existenz vernichtete. Die Balance, die Sicherheit der Konstruktion, die Stabilität fliegender Objekte und damit die Schutzräume sind außer Kraft gesetzt, verweigern sich, ohne dass wir das bislang begriffen haben. Die immer wieder beschworene Veränderung der Amerikaner hat nicht stattgefunden, auch die der New Yorker nicht. The show must go on.
 
Hier setzt von Gaffron ein, nicht, indem er Agitation betreibt, nicht, indem er provoziert - dann könnte er sich auch mit einem Sandwich in die Fußgängerzone stellen oder einen gescheiten Artikel im Feuilleton einer überregionalen Zeitung veröffentlichen - sondern indem er verunsichert und in einer sehr komplexen Form der intellektuellkünstlerischen Annäherung die unterschiedlichen Aspekte von Schutzräumen aufzeigt.
 
Die Verunsicherung führt von der Kombination von Kuschel-Nashörnern mit Film- und Fotoserien über das Blau des Kunstlichtfilms, das an Videoüberwachung erinnert, bis hin zu den Arien Carusos, mit denen die Betrachter während des Aufenthalts in der Installation, also im Kunst-Pavillon, ununterbrochen berieselt werden. Und im Zusammenhang mit den Nashörnern und dem kolonialen Großwildjäger dürften sich die Kinofreaks an Klaus Kinski in weißem Anzug erinnert fühlen, der als Fitzcarraldo die Oper in das bis dahin noch unberührte Amazonasgebiet bringen wollte und auf seinem Schiff mit einem Grammophon Arien hörte. Ob Caruso sie gesungen hat, weiß ich nicht mehr. Die hier gehörten Lieder hat er um die Jahrhundertwende aufgenommen und sie wurden nun mit Sicherheit in den Kolonien gehört, egal ob in Afrika, Asien, Südamerika oder auf Sumatra. Das war damals das neueste Medium, dem Bewunderung gezollt wurde, das Zivilisation bedeutete.
 
Die Schutzräume, die von Gaffron hier unmittelbar und mittelbar zeigt, brechen alle wie Kartenhäuser in sich zusammen, weil ihre Insassen sich immer noch und immer wieder gegenseitig bedrohen, statt zu erkennen, dass nur im aufeinander Zugehen die Möglichkeit besteht, die Schutzräume zu erhalten - und letztendlich ist das der gesamte Planet.